Kais Jahresrückblick 2025
29.12.2025 | Kai Weingärtner
Comeback des Jahres
Es war zwar schon Ende des letzten Jahres klar, aber im Januar bekamen wir es dann endlich auch in voller Länge zu Gehör: nach über sechs Jahren das Comeback-Album einer Band, deren Musik für mich und viele andere zum Nexus des eigenen Musikgeschmacks geworden ist – Heisskalt und “Vom Tun und Lassen”. Die Erwartungen waren dementsprechend groß, und auch wenn das Album keinen Platz in meinen Jahresfavoriten gefunden hat, freue ich mich riesig, dass das Kapitel Heisskalt weitergeschrieben wird und dass sich diese Band, die mir so unglaublich viel bedeutet, weiterhin neue, kreative und eigensinnige Wege geht. Riesengroßen Dank an dieser Stelle auch an Matze, der mir mit unserem Gespräch im Plattensprung-Podcast einen kleinen Starstruck-Moment ermöglicht hat. Ich weiß nicht, ob man es mir angemerkt hat, aber ich war sau-nervös. Am Ende ohne Grund, tolles Gespräch, tolles Album, tolles Comeback!
Neuentdeckung(en) des Jahres
Seit ein paar Jahren habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, mit dem Jahreswechsel nochmal so Einiges nachzuholen, was ich im Jahr davor verpasst habe. Mit dabei waren in diesem Frühjahr Alben großer Namen, die mir bei Release zwar aufgefallen sind, ich aber aus irgendwelchen Gründen nicht die Zeit oder die Muße gefunden habe, mich ihnen zu widmen. Dann waren da die Alben, die sogar hier im Fanzine stattfanden, ich dadurch aber leider nun keine externe Motivation mehr hatte, um Sie zusätzlich zu den Rezensent:innen noch zu hören. Hätte ich mich mal aufgerafft, dann würde Kim Gordons Solo-Album The Collective jetzt nicht mit einer mieseligen 2/10 auf dieser Seite verewigt sein. Naja, Geschmäcker sind ja bekanntermaßen verschieden, und ich will hier Franks Auffassung der Platte gar nicht in den Schatten stellen, im Gegenteil, alles was er in seinem Text sagt, würde ich unterschreiben, nur halt mit einer anderen (höhreren) Zahl am Ende. Dass man auch mit 72 Jahren noch so einen kreativen Drive und Entdeckungsgeist an den Tag legen kann, wie Kim Gordon ihn hier beweist, lässt mich dem Altern ein wenig gelassener entgegensehen.
Noch besser als einzelne Alben, die man neu entdeckt, sind nur die seltenen Fälle, in denen zuvor unbekannte Künstler:innen einem mit dem Erstkontakt völlig die Schuhe ausziehen. Genau dieses Gefühl wurde mir glücklicherweise gleich mehrmals in diesem Jahr beschert. Magdalena Bay sind ein Synth-Pop-Duo aus den USA, deren letztes Album Imaginal Disk zu den schönsten musikalischen Weltfluchtversuchen der letzten Jahre gehört. Unzählige Male rotierten die butterweichen Gesangsmelodien und hypnotischen Arrangements aus meinen Lautsprechern und in meinem Kopf. Wenn ich mich dabei mal wieder zu tief in Tagträumen verfangen hatte, half mir die letzte und vielleicht eindrücklichste Neuentdeckung des Jahres dabei, mich wieder in die Realität zurückzuholen – die düstere, dreckige, heruntergekommene, widerliche Realität. Selten, vielleicht nie, habe ich Verzweiflung und Bitterkeit so akkurat vertont gehört wie in der Musik der Band Chat Pile aus Oklahoma. Tonnenschwere Riffs, dissoziativ gekrächzte Vocals und ein Soundgewand, das Blumen verwelken lässt. Was könnte den Zeitgeist musikalisch besser treffen?
Konzert des Jahres
Wie eingangs erwähnt, habe ich meine Konzertbesuche in diesem Jahr so eng getaktet wie zuletzt wahrscheinlich 2019. Neben meinem ausführlich dokumentierten Besuch auf dem Hurricane Festival vergang in den Monaten September, Oktober und November nicht eine einzige Woche, in der ich nicht mindestens eine Show irgendwo gesehen habe. Ein besonderes Highlight markierte dabei definitiv das Konzert von clipping. in Hamburg. Nicht nur durfte ich endlich mal wieder dem Hafenklang einen Besuch abstatten, ich hatte mit meinen beiden Ex-Plattensprung-Kollegen Felix und Jakob auch noch 1a Begleitung. Die Virtuosität von clipping. bedarf keiner Erläuterung (und kommt in einer anderen Rubrik evtl. nochmal zum tragen), deshalb komme ich hier noch auf ein anderes Konzert zu sprechen.
Als ich Ende November den Festsaal Kreuzberg betrete, lese ich an der Eingangstür einen ausgedruckten Zettel mit der Aufschrift: “The Swans show has a very high volume, please protect your ears”. Gratis Ohrstöpsel gibt’s am Eingang ebenfalls. Sowas hatte ich bis dahin auch noch nie gesehen, es stellt sich aber heraus, dass die Warnung durchaus angebracht war. Swans, diese monumentale Band, geboren aus den Hirnwindungen von Michael Gira, tritt an diesem Abend den Gang zum selbstgewählten Schafott an. Ein Spektakel, dass ich mir nicht entgehen lassen konnte, und so ist mein erstes Swans-Konzert gleichzeitig auch das letzte der Band. Dem sind sich nicht nur alle Anwesenden bewusst, sondern auch die Künstler:innen auf der Bühne. Der Abend ist geprägt von einer morbiden Poesie. Nach jedem Song signalisiert Gira in Worten oder in Gesten den soeben vollzogenen letzten Atemzug dieses Stücks. Der Geräuschpegel hält, was der Zettel versprach. Dieses Konzert war eine physische Erfahrung. Zeitweise waren die brachialen Gitarrenwände so laut, dass man überhaupt kein Gefühl mehr dafür hatte, woher die Musik überhaupt kommt. Aus jeder Richtung einfach nur laut, und das für zweieinhalb Stunden, in denen Swans schmale fünf Songs zum besten geben. Keine Zugabe, kein will they, won’t they, nur ein gebanntes Publikum und eine dankbare Band. Tränen fließen sowohl vor als auch auf der Bühne. Eine der einprägsamsten, berührendsten Konzert-Erfahrungen, die ich je gemacht habe.
Musikmoment des Jahres
NPRs Tiny Desk Concert ist wohl die prestigeträchtigste Konzertreihe, die keine Konzertreihe ist. Die hinter einem Schreibtisch aufgenommenen Live-Sessions im NPR Büro sind bisweilen zu kulturellen Happenings geworden, die Karrieren vieler Künstler:innen die Kirsche auf der Sahne aufgesetzt haben. clipping. hatten ihren Moment bereits während der Pandemie, als Sie das Motto Tiny Desk beim Wort nahmen (ebenfalls sehr sehenswert!). Als pünktlich zu Halloween ihr zweiter Auftritt im NPR-Büro, in meinem YouTube-Feed landet, war ihnen mein Klick sicher. Und nach mindestens 20 Durchläufen dieser UNFASSBAREN Performance kann ich zufrieden vermelden: Das war’s, the Internet peaked, wir können den Laden dicht machen, von hier an geht’s eh nur bergab! Um es mit den Worten eines guten Freundes zu sagen: “Das ist das Gegenteil von KI-Musik”.
Album des Jahres
Es gibt Jahre, in denen fällt diese Entscheidung schwer, weil irgendwie nichts rauskam, was einen so richtig umgehauen hat. Es gibt Jahre, in denen fällt diese Entscheidung schwer, weil die eigenen Erwartungen einem das vermeintliche Lieblingsalbum kaputt gemacht haben. Und dann gibt es Jahre wie 2025, in denen man im Sommer denkt, seine 2-3 Contender schon parat zu haben, und der Referenzrahmen dann in zwei Monaten aus den Fugen geworfen wird. Als Ende Mai Swans’ vermeintlich letztes Album Birthing erscheint, war für mich klar, dieser Award geht an einen von drei Anwärtern: Dead Channel Sky von den bereits erwähnten clipping., Sumac & Moor Mother’s The Film, oder eben Birthing. Und dann kam der September, und in den darauf folgenden Wochen der Release von gleich fünf (!) Alben, die alle auf einen Platz in dieser Aufzählung pochen. Danny Brown schafft mit Stardust eines der wildesten Rap-Alben des Jahres, Chat Pile finden sich mit Hayden Pedigo zusammen und droppen mit In The Earth Again eine unerwartet gut funktionierende Reflektion von Schmerz, Verlust und Wut, und Anna von Hauswolff vertont mit ICONOCLASTS gleichzeitig Untergang und Triumph.
Die beiden Alben, zwischen denen ich mich aber partout nicht entscheiden kann und möchte sind Maruja’s Pain To Power und Agriculture’s The Spiritual Sound. Ich habe alles, was ich zu diesen beiden Alben jetzt hier sagen könnte, schon in meinen Reviews versucht zu sagen, und bin mir auch da nicht sicher, ob ich der Wucht, die diese beiden Alben auf so unterschiedliche Weise entfalten, gerecht werde.
Wichtelalbum: Selena Gomez & Benny Blanco – “I Said I Love You First…”
Nataly Sesic
In der Tradition hoffnungslos fehlgeleiteter Paar-Projekte – mein Favorit ist bis heute "Two The Hard Way", ein kollaboratives Album zwischen Dark Lady Cher und Southern Rock-Gott Greg Altman, die in den 70ern kurzzeitig verheiratet waren – werfe ich "I Said I Love You First" von Disney-Sternchen Selena Gomez und Mega-Producer Benny Blanco für Kai in den Ring.
Als wäre das Album nicht bereits reichlich durch ein Jahrzehnt an Drama zwischen Gomez und Justin Bieber negativ behaftet, so muss "I Said I Love You First" schon einen harten Weg bergauf steigen, weil zu viel Erwartung hinter dem Projekt steht. Gomez hat sich in den letzten Jahren mehr Film und Fernsehen zugewandt, weil sie sich da, wie sie selbst zugibt, sicherer und selbstbewusster fühlt, als in der Musik. Im Gegensatz zu Kolleginnen Demi Lovato und Miley Cyrus hat sich Musik für Gomez stets wie eine Zusatzaufgabe angefühlt, ein Weg, den man im Rahmen seines Disney-Lebens geht, nicht, weil man sich dafür interessiert, sondern, weil es erwartet wird. Fans warten seit 5 Jahren auf ein neues Album, länger als das auf eine Tour. Und so, ohne Musik, über die man sich unterhalten kann, wird Gomez Privatleben stattdessen zum öffentlichen Spektakel.
Gomez ist eine schwache Sängerin. Das weiß sie selbst, doch mit den richtigen Produzent:innen holt man das an Emotion und Flavour raus, was die Stimme alleine nicht leisten kann. "Lose You To Love Me" macht mir bis heute Gänsehaut, wenn ich nur die ersten Zeilen höre, weil der Track versteht, wo Gomez Stärken sind. Benny Blanco hat den Vorteil, dass er Gomez Vertrauen als romantischer und kreativer Partner genießt, und so schafft er es, einige spaßige, emotionale Tracks rauszuholen. Blanco ist nicht umsonst ein gefeierter Produzent. Er hilft Gomez, Hook um Hook um Hook zu schreiben. Fast alle Songs gehen auf TikTok viral: Blanco weiß, was zieht. Gleichzeitig weiß er auch, was seine kreativen Partner:innen brauchen. Er erlaubt Gomez, fast ausschließlich sanft in ihrem unteren Register zu singen, statt sie in die Formen ihrer Kolleg:innen zwängen zu wollen.
Man merkt, dass das Album weniger dem Ausbau von Gomez Karriere dient, sondern vielmehr ein Test ist, ob sie je wieder Musik machen wird. Das erkennt man auch an den Shifts zwischen Genres – emotionale Balladen mischen sich mit Hyperpop-Hymnen, quirligen Pop-Nummern mit Indie-Tracks. Musikalisch ist das Album völlig inkohärent, doch es macht Spaß. Auch wenn mir Tracks wie "Sunset Blvd" doch etwas zu...nah am Thema sind.
Kai Weingärtner
Die Idee, dass wir uns redaktionssintern Alben zuwichteln, kam in einem Brainstorming mit unserem resident Podcasthost Moritz auf, und ich bin nach wie vor sehr angetan davon (ich hoffe das geht den anderen auch so). Nun hat sich in meinem Fall die Situation ergeben, dass Nataly mich vor die Wahl gestellt hat, welche Art von Album ich denn gerne unter den digitalen Baum gelegt bekommen würde. Ein cleverer Schachzug von ihrer Seite, denn so bin ich in jedem Fall selbst Schuld, wenn mir das Album nicht zusagt, ich hab es schließlich nicht anders gewollt. Ob kalkuliert oder nicht, nachdem ich ungeduldig das Geschenkpapier zerfleddert habe, sehe ich mich nun einer musikalischen Liebeserklärung zweier Künstler:innen gegenüber, die bisher keine Beachtung meinerseits gefunden hatten. Dass aus ehemaligen Kinderstars durchaus mal gute Songwriterinnen werden, haben Leute wie Miley Cyrus und Sabrina Carpenter hinlänglich bewiesen. Der Name Selena Gomez machte mich dementsprechend erstmal neugierig, auch wenn meine letzte Begegnung mit ihr als resignierte Ehefrau im furchtbaren Musical-Film Emilia Peréz eher abschreckend gewirkt hat. Dass die Künstlerin mit Benny Blanco, dem Produzenten von I Said I Love You First… verlobt ist, musste ich erstmal ergooglen. Zuvor hörte ich aus dem Album vor allem die Verarbeitung einer vergangenen Beziehung heraus, woraufhin mir Übles schwante. Wenn prominente Künstler:innen andere Prominente daten, geht das zum Einen oft nicht gut aus und mündet zum Anderen dann auch noch oft in überzogenen Breakup-Alben, in denen die eine Seite der anderen ihr Fehlverhalten mal mehr mal weniger durch die Blume vorhält und die eigene Verletztheit einem sensationsgeilen Publikum zu entblößen.
Zum Glück ist diese Sorge mit genauem Hinhören und ein wenig Hintergrundrecherche schnell ausgeräumt, es geht hier wohl eher um das Zusammenfinden der beiden Liebenden, zu dem am Anfang eben auch Breakups, Awkwardness und Gefühlschaos dazugehören. Erstes Fettnäpfchen also umschifft. Die Perspektive ist zwar ein wenig einseitig, da Gomez auf der gesamten Platte als alleinige Sängerin fungiert, die gegenseitige Zuneigung und Chemie schimmern aber trotzdem durch die Texte durch, denen es zwar nicht an Pathos mangelt, die aber die meiste Zeit den ganz großen Cringe-Momenten ausweichen. Mein “Problem” mit I Said I Love You First… liegt auch eher auf Seiten der Instrumentierung und Produktion. Ich habe das Gefühl hier einem 16-Song-Best-Of der letzten 10 Jahre Popmusik zu lauschen, statt einem kohärenten Album. “Bluest Flame” kanalisiert den Hyperpop, inklusive Backgroundvocals von Charli XCX, “Sunset Blvd” bringt gedämpfte 80s-Drums und Nostalgie, “Younger And Hotter Than Me” klingt mit seinen sich hebenden und senkenden Gesangslinien irgendwie ein bisschen nach Adeles “Skyfall”. Alles tolle Künstlerinnen, aber I Said I Love You First… erhebt darüber hinaus keinen Anspruch auf Einzigartigkeit. Die Einflüsse kommen für mich nicht richtig zu einem Ganzen zusammen, sodass ich am Ende leider nicht viel mehr als ein müdes Lächeln und ein “ganz gut” beizutragen habe. Sorry, Nataly!
Der Blick nach vorn
2026 wird, soviel zeichnet sich schon jetzt ab, ein Jahr mit vielen persönlichen Veränderungen. Der erste große Programmpunkt steht schon im Januar an, denn dieses Fanzine wird zehn Jahre alt! An dieser Stelle kurz der sentimentale Satz, dass ich mich riesig darüber freue, auch nach 6 Jahren immer noch große Freude an der Arbeit in dieser Redaktion habe, und mich noch viel mehr darauf freue, was die Zukunft in diesen Belangen so bereithält!
Aber auch musikalisch zeichnet sich schon das ein oder andere Highlight ab. Fjørt bringen mit belle époque schon im Februar ihr neues Album raus, und die letzte Single “messer” stimmt mich wieder vorfreudig auf die neuen Songs aus der Kaiserstadt. Außerdem freue ich mich, auch wenn es noch nicht offiziell angekündigt ist, auf ein neues Album des australischen Ausnahme-Artists Genesis Owusu. Die ersten beiden Singles versprechen jedenfalls viel. Was auch immer sonst noch so daher kommt, ihr werdet meinen Senf dazu in ca. einem Jahr hier so oder so ähnlich zu lesen bekommen.
Kai Weingärtner
Kai hat in Osnabrück Politik und Kulturwissenschaft studiert, und damit tatsächlich einen Job gefunden. Der verhindert mittlerweile leider, dass er sein ganzes Leben in irgendwelchen stickigen Konzertvenues verbringen kann, die Leidenschaft für alles, was laut ist und idealerweise auch manchmal ein bisschen in den Ohren wehtut, ist aber so groß wie nie.