Swans und “Birthing”: Jedem Ende wohnt ein Zauber inne
09.06.2025 | Kai Weingärtner

“This album, coupled with the recent live release, "Live Rope", constitutes my final foray (as producer / impresario) into the all-consuming sound worlds that have been my obsession for years.” Mit diesen Worten meldet sich Michael Gira kurz vor Release von “Birthing”. Was sich musikalisch schon seit längerem anbahnte und spätestens 2023 auf “The Beggar” evident wurde, ist nun tatsächlich ausgesprochen. Giras Beschäftigung mit der eigenen Zeitlichkeit führte ihn offenbar zu der Erkenntnis, dem Projekt Swans – oder zumindest der gegenwärtigen Ära von Swans – besser ein bewusstes Ende zu setzen, als diese Sterblichkeit in der Luft hängen zu lassen. Und doch gibt er diesem finalen Album einen so eröffnenden Titel, dass man um den Eindruck nicht herum kommt, der Fuß stehe zumindest noch in der Tür. Gleichzeitig deutet der mittlerweile 71-Jährige an, dass auch nach “Birthing” noch leben in Swans sein würde; nur eben nicht in welcher Form. Sind Auswüchse dieser neuen Ideen und Richtungen etwa schon auf diesem Album hörbar?
Schaut man sich die Eckdaten von “Birthing” an, schreit alles daran: “Dies ist kein normales Album”. Schaut man nochmal mit dem Bewusstsein hin, um welche Band es sich hier handelt, schreit alles: “Dies ist ein normales (Swans-)Album.” Knapp zwei Stunden Laufzeit verteilen sich auf gerade mal sieben Songs, keiner davon knackt die 6-Minuten-Marke (nach unten natürlich). Allein die ersten drei Songs füllen schon weit mehr als ein durchschnittliches Album, wobei sich das auch wirklich nur auf die Spieldauer bezieht. Denn wie immer geht Gira mit Worten, Melodien oder gar Refrains spärlich um. Rotweinfans werden hier definitiv auf ihre Kosten kommen, denn sowohl die massiven Klänge von Swans als auch der zertifizierte Bordeaux bekommen hier genug Zeit zum Atmen.
“The Healers” hält sein Publikum ganze acht Minuten mit repetitiven Gitarren und den beschwörenden Mantren Giras bei der Stange, bevor sich Bass und Schlagzeug in den Mix gesellen und dem Song ein dringliches Gefühl der fort- bzw. abwärtsbewegung verleihen. Der Gesang wechselt von flehend zu bessessen, was dem Ganzen eine hypnotische Qualität beigibt. Jeder Ausbruch aus den spiralisierenden Rhythmen holt uns kurz wieder in die Realität zurück, bis nach weiteren acht Minuten plötzlich das Chaos durch die Tür bricht. Eine wilde Explosion aus krachenden Drumfills und schmirgelnden Gitarren setzen einen Weckruf, der in einer weiteren schmerzverzerrten Predigt mündet. Der Song endet in einem tosenden Trommelfeuerwerk, überlagert von einem klagenden Chor. Kein Ohrwurmpotential, keine “Hooks” – aber ehrlich gesagt: Wer das von einem Swans-Album erwartet, wird so schnell nicht glücklich. “Birthing” verlangt von seinen Hörenden wie gewohnt eine ganze Menge Sitzfleisch.
Wer sich die Zeit und die Aufmerksamkeit nimmt, sich den monumentalen Kompositionen dieser Band in Gänze hinzugeben, wird dafür mit einer Intensität belohnt, die es so nicht oft in der Gitarrenmusik (oder irgendwo) zu finden gibt, wie auch der zweite Song “I Am A Tower” eindrucksvoll unter Beweis stellt. Gira bleibt in der Rolle des manischen Predigers, diesmal in Spoken Word vorgetragen, nur scheint sich sein Blick diesmal nicht gen Himmel zu vermeintlichen Erlöser:innen zu richten. Stattdessen scheint aus ihm ebenjene höhere Macht zu sprechen, die mit donnernder Stimme eine Apokalypse aus musikalischen Grenzerfahrungen über das Publikum hereinbrechen lässt; Gitarren wie Alarmsirenen, brachial tosende Percussions und – ist das eine Trillerpfeife? Auf die Zerstörung folgt der Neuanfang: folkige Harmonika-Meldien durchbrechen den Wüst wie die ersten Sonnenstrahlen das Morgengrauen, unweigerlich löst sich ein Knoten in der Brust. Die Stimme, die bereits zart im Intro des Songs zu hören war, ist zurück, nur klingt sie diesmal beruhigend und auf angenehme Art und Weise selbstsicher, statt sich um sich selbst drehend in Rage zu reden. Ab Minute 13 dann der Aufbruch: treibende Drums machen Feuer unterm Hintern, und der Song legt in wenigen Sekunden eine Kehrtwende hin. Euphorie macht sich breit, man möchte über eine taufeuchte Wiese rennen, die Lunge brennt, aber man muss immer weiter, fühlt sich beflügelt. Der offensichtliche Vergleich zu David Bowie’s “Heroes” passt zu gut, um ihn nicht nochmal zu wiederholen.
Ein Highlight jagt das nächste (wenn man im Kontext zwanzigminütiger Avantgarde von so etwas schnellem wie “jagen” sprechen kann), im dritten und titelgebenden Song des Albums findet “Birthing” einen klanglichen Höhepunkt. In einem orchestral anmutenden Intro bauen sich langsam und bedächtig die einzelnen Komponenten des Songs auf. Besonders ergreifend sind die Bläser. Auch hier drängt sich wieder das Bild der Lichtstrahlen auf, die durch die graue Wolkendecke brechen, man blinzelt in den Himmel mit dem diffusen Gefühl von “jetzt wird alles gut”. Gleichzeitig gespenstisch und irgendwie beruhigend wirkt das gesampelte Baby-Gebrabbel, das den Titel des Songs nochmal mit Nachdruck in den Vordergrund schubst. Das hier ist ein Neuanfang, oder mindestens ein Zelebrieren des selbigen. Plötzlich wieder der Bruch: die euphorische Stimmung weicht einer sphärischen Intimität, in der Gira über sanfte Klaviertöne und in ungewohnt behutsamer Manier singt wie zu einem Kind. Die erste Stunde “Birthing” ist nun fast geschafft, und wie zur Erinnerung gibt uns eine Stimme wie aus einem Navi zu verstehen, dass hier noch lange nicht Schluss ist: “Pay. Attention. Mother. Fuckers.”
Es folgen zwei der “kürzeren” Cuts des Albums. “Red Yellow” mit seinem fast musicalhaften ist für Swans-Verhältnisse geradezu funky, driftet dann aber schnell wieder in bizarre Hypnotik. Nach der einstündigen Konditionierung auf plötzliche Richtungswechsel und Ausbrüche lässt dieser Song sein Publikum etwas perplex und unvermittelt zurück. “Guardian Spirit” erweist sich anschließend als Text-Subtext-Wiederspruch. Die Kulisse ist bedrohlich, einschüchternd. Mit sadistisch verzückter Stimme durchlebt Gira die Machtfantasie eines allsehenden Tyrannen: “Down under my gaze, your freedom is fake”.
Und dann kommt er doch wieder, der unerwartete Richtungswechsel. “The Merge” beginnt wieder mit einer gesampelten Babystimme und einem Intro, das man so auch auf einer Harsh Noise Platte finden könnte. Der Song klingt als würde er ständig das Tempo wechseln, was sich beim Hören schnell in Paranoia und das unangenehme Gefühl des Verfolgtwerdens übersetzt. Nach einigen epochal instrumentierten Minuten reduziert sich der Song auf akustische Gitarren und die durchdringende Stimme Giras, die sich alle Mühe gibt, den Zuhörenden das durch den bisherigen Albumverlauf aufgerissene Schleudertrauma wieder vergessen zu säuseln. Im Vergleich zu den ersten drei Songs von “Birthing” vergeht dieser Abschnitt wie im Flug, was leider nicht nur an der deutlich reduzierten Länge der Songs liegt. Es stellt sich das Gefühl ein, einige Momente hätten von etwas mehr Zeit und ein wenig reduzierter Inszenierung durchaus profitiert, entscheidungen wie das wirre Elektronik-Intro von “The Merge” erhalten dadurch eine gimmicky Qualität, die eher durch Absurdität als durch Stimmigkeit im Kopf bleibt.
Mit “(Rope) Away” setzten Swans ein letztes Mal zum schillernden Intro an, das Album neigt sich spürbar dem Ende entgegen. Nach knapp 16 Minuten brachialem Instrumental wendet sich Gira ein vermeintlich letztes Mal an seine Zuhörenden. Klagend und nostalgisch verneigt er sich vor all denjenigen, die ihn und Swans begleitet haben und reflektiert scheinbar zeitgleich noch einmal seine eigene Endlichkeit. Flöten gesellen sich hier in den Mix, was dem Song einen noch märchenhafteren Charakter verleiht. Sollte dies nun wirklich das letzte Mal sein, dass sich Swans in dieser Iteration ihres Sounds zu Wort melden, haben Sie mit diesem Song und diesem Album einen denkwürdigen Schlussakkord gesetzt.
Wertung
Die ersten drei Songs von “Birthing” sind in sich ein fast perfektes Erlebnis. Düster, epochal, einnehmend und wie immer virtuos inszeniert. Das Trio aus folgenden Songs markiert für mich danach einen kleinen Durchhänger, was zugegebenermaßen aber Meckern auf sehr hohem Niveau ist, und das fantastische Finale schickt mich doch versöhnlich gestimmt wieder nach Hause. Ich hoffe, dass ich Gira und seine Co-Konspirator:innen noch einmal auf der Bühne erleben darf, bevor diese Ära von Swans endgültig endet.

Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.