Hart aber schmerzlich - Silverstein sind mit "Dead Reflection" zurück
05.07.2017 | Johannes Kley
Mit „Dead Reflection“ veröffentlichen die kanadischen Emocore-Legenden Silverstein bereits ihr neuntes Album. In der Mitte der 2000er Jahre waren sie neben Hawthorne Heights, The Used und einigen anderen Gruppen die Helden zahlloser Jugendlicher und die Speerspitze der Emo-Szene. Bis auf wenige Ausnahmen haben die meisten Bands aus dieser Zeit ihren Stil dem Zeitgeist und dem Kommerz angepasst oder komplett aufgehört. Silverstein sind sich und dem Core aber treu geblieben und haben sich stetig weiterentwickelt.
Die fünf Männer aus Kanada liefern 14 Jahre nach ihrem ersten Album eine interessante Scheibe mit altbewährter Formel. Screams und Clean-Vocals wechseln sich fließend ab und werden gekonnt von den zwei Gitarren, Bass und Drums eingefasst. An einigen Stellen erinnert die Platte an Silversteins Erstlingswerk „When Broken Is Easily Fixed“ und schafft es immer noch, diese ganz bestimmte Stimmung des Emocore einzufangen.
Textlich bewegt sich die Band in bekanntem Terrain. Emo-typisch sind die persönlichen Konflikte, Probleme und Tiefen immer noch das vorherrschende Thema. Vermissen, Trennung, Verlust, Zweifel und Depression sind in den Texten zu finden, in Metaphern verpackt und hinter emotionalen Wänden versteckt. Oberflächlich bieten die Songs eine Menge Stoff zum Nachdenken und Mitfühlen. Widmet man sich den Lyrics aber tiefer, bieten sie auch immer Platz für den Hörer, seine eigene Geschichte hineinzudenken. Und so ziehen die Songs runter, machen wütend und stimmen nachdenklich.
Inhaltlich sind die Tracks typisch für die Band, jedoch ruhiger geschrieben und mit deutlich weniger Pathos, als noch vor ein paar Jahren. Dabei gehörte eben dieses Pathos mit übertriebenen Suizidwünschen und sehr viel Drama zum Charme des Emo-Genres. Am Ende bleiben lyrische Kämpfe mit inneren Dämonen und gebrochenen Herzen, nur eben reifer als früher. Das darf man auch ohne Kritik auf das Alter der Jungs schieben.
Silverstein - "Retrograde"
Wechselnder Gesang zwischen intensiven Screams und sanfter Stimme, gekonnt eingesetzt, verstärken die Texte noch einmal. Die Stimmen sind gezielt eingesetzt und gut abgemischt, was auch auf die gesamte Platte zutrifft. Die sanften Vocals sind Emo-typisch cleaner, teils nasaler, meist etwas höherer Männergesang. Die Screams sind kräftig und erinnern an die Hochzeiten des Screamo-Genres. Silverstein halten die Balance beider Gesangsformen sehr gekonnt und langweilen den Hörer nicht, überfordern aber auch zu keinem Moment. Auch die Backing Vocals funktionieren einwandfrei und schaffen atmosphärische Parts in den Songs.
Musikalisch bietet die Band eine Mischung aus Hardcore, Post-Hardcore und emotionalen Metaleinlagen. Die Gitarristen arbeiten mit vielen Effekten. Sie erzeugen teils immense Soundwände und im nächsten Moment kreischen die Saiten mit dem Sänger zusammen. In den Balladen „Secret’s Safe“ und „Wake Up“ umspiele die Instrumente den Sänger sanft und unaufdringlich. Drums und Bass bieten nichts Außergewöhnliches, sind aber sauber gespielt und passen ins Gefüge der Gruppe. Die Stimmung der Melodien steht teils im Kontrast zu den Texten. Ein einwandfrei funktionierender Widerspruch, welcher das Album musikalisch interessant dastehen lässt.
Zusammen schaffen es die Melodien, teils den Kopf zum Nicken zu bewegen, aber auch einige Moshpit-Einlagen sind vorhanden und dürften auf der anstehenden Tour gut funktionieren. Nichts atemberaubend Neues, aber im positiven Sinne genau das, was man von Silverstein erwartet.
„Dead Reflection“ ist das Album einer Emoband, welche reif und erwachsen geworden ist. Silverstein bleiben bei ihren Wurzeln und ergänzen ihre musikalische Formel um Kleinigkeiten. Das Album dürfte Fans des Genres und der Band glücklich stimmen, auch wenn es manchen zu weit von „Discovering The Waterfront“ und „When Broken Is Easily Fixed“ entfernt sein dürfte. Ein Album mit guten Songs, wovon allerdings nicht alle so im Ohr bleiben, wie man es sich und der Band vielleicht gewünscht hätte. Wer aber Lust auf reifen, emotional tiefgehenden und technisch einwandfreien Post-Hardcore und Emocore hat, sollte unbedingt reinhören.
Wertung
Wo Silverstein draufsteht ist auch Silverstein drin. Die Kanadier liefern ein gutes Post-Hardcore-Album ab und sind sich und ihrem Stil treu geblieben. Fans der Band und des Genres sollten definitiv reinhören
Wertung
„Dead Reflection“ will die eierlegende Wollmilchsau sein, vor der sich sowohl der Mainstream-Hörer als auch der alteingesessene Fan verneigt. Am Ende ist das Album natürlich hörbar, kriegt die Brücke zwischen krampfhaft glatt gebügeltem Grundtenor und modernen Shouts aber nicht glaubhaft geschlagen.
Johannes Kley
Kolumnist und Konzertmuffel Joe ist Gesundheits- und Krankenpfleger in Bochum, liebt seinen Hund, liest leidenschaftlich gern, gibt ungern Bewertungen für Alben ab, ist Musikliebhaber, irgendwo zwischen (emotional) Hardcore, Vaporwave, Goth-Pop und Nine Inch Nails und versorgt euch unregelmäßig mit geistigen Ergüssen aus seiner Gedanken- und Gefühlswelt.