Deftones und “private music”: Can we sit here, silently?
01.09.2025 | Nataly Sesic

Was mir schon beim ersten Hören direkt auffällt: Die Songs haben fließende Übergänge. Ein Lied läuft in das Nächste wie Rinnsale in einen Fluss. Noch vor 15 Jahren wäre das nicht bemerkenswert gewesen, doch die Albenkultur hat sich im Zeitalter von Spotify & Co. massiv verändert: Der Shuffle-Knopf hat jeglicher Album-Kohärenz den Gar ausgemacht, und ich als Rock-Fan der 80er und 90er Jahre mit einem besonderen Faible für Konzeptalben bin darüber sehr unzufrieden. Bring Me The Horizons “Next Gen” hat von mir direkt einen Punkt mehr auf der Skala bekommen, als ich gemerkt habe, dass die Lieder geplante Übergänge hatten; so besonders ist es inzwischen geworden. Für mich ist ein Album ein Gesamtkunstwerk, nicht eine Ansammlung zufällig gewählter Songs, die nett klingen. Ich begrüße also die Entscheidung von Deftones und ihren Produzent:innen, darauf Wert zu legen.
Deftones sind Meister der Atmosphäre. Das beweisen sie Album um Album, Song um Song. Es gibt kaum eine Band, bei der ich ab dem ersten Ton diese unbeschreibliche musikalische Überwältigung empfinde; ein Gefühl, das wie winzig kleine Nadelstiche über die Haut zieht. Das Reißen der Gitarren, die Eindringlichkeit des Gesangs, die treibenden Drums sind dazu fähig, mich völlig in ihren Bann zu ziehen. Es ist eine Umarmung, aus der ich mich nicht zu befreien vermag. Das fließende Arrangement der Songs zieht die Hörer:innen mit sich, bis die Songs fast nicht mehr von einander zu unterscheiden sind. Das klingt negativ, aber ganz im Gegenteil schaffen es die Deftones stets, ein Meer aus Musik zu kreieren, in dem man freien Willens versinkt.
Das klingt alles sehr abstrakt, das ist mir klar. Als Kritikerin stoße ich da an meine Grenzen, wo Gefühle überwältigen. Ich möchte also einen Vergleich ziehen, der meine Gefühle bezüglich “private music” und Deftones insgesamt greifbar macht.
John Everett Millais malt 1852 ein Gemälde, das man, wie ich finde, kennen muss: genannt Ophelia. Es zeigt die Szene in Hamlet, in welcher Ophelia, nachdem sie herausfindet, dass ihr Geliebter ihren Vater ermordet hat, beim Blumenpflücken in einen Fluss fällt. Statt sich zu retten, lässt Ophelia sich treiben und stirbt schließlich: mit Blumen in ihren Händen und ohne je um Hilfe gerufen zu haben, ihr Gesicht von Angst befreit dem Himmel zugewandt. Das Gemälde ist ein Ausdruck für weibliche Verzweiflung und die Zerbrechlichkeit von Unschuld und Liebe. Wenn man mich fragt, wie Deftones klingen, zeige ich auf dieses Gemälde.
“private music” bündelt alles, was Deftones besonders – und seit mehr als 30 Jahren beliebt – macht. Die Stimme von Sänger Chino Moreno hat Generationen geprägt und zahlreiche Nachahmer:innen inspiriert. Es ist eine Kunst, so eindringlich und gleichzeitig sanft zu klingen. Und selbst, wenn er schreit, so fühlt man darin nicht nur die oft mitschwingende Aggression oder Depression des Metal-Genres, sondern einen Funken, der Moreno ganz alleine gehört. Irgendwo zwischen enigmatisch und animalisch lädt “private music” dazu ein, sich völlig in der Musik zu verlieren.
Das Album kam bereits am 22.08.25 raus und wurde von so ziemlich allen Musikpublikationen in den Himmel gelobt. Zu Recht, wie ich finde. Da ich aber ungerne alte Lobeshymnen wiederkäue, möchte ich eine andere Perspektive in den Diskurs einbringen:
Die Musik-Kritiker:innen der 90er haben Deftones bekannterweise als “Metal-Antwort auf Radiohead” bezeichnet, was gleichzeitig so frech und lustig ist, dass es mich immer wieder zum Lachen bringt. Tatsächlich gibt es aber einen greifbaren Unterschied zwischen den Deftones und Radiohead – vor allem dieser Ära – und es ist meiner Meinung nicht das Genre.
Ich lehne mich jetzt so weit aus dem Fenster, dass ich schon den Wind in meinem Nacken spüren kann. Drohemails gehen bitte direkt an mich. Here we go:
Ich behaupte, der Unterschied zwischen Deftones und Radiohead liegt darin, dass Deftones ein stark weibliches Publikum hat und explizit auf dieses Publikum ausgerichtet ist. Das soll natürlich weder bedeuten, dass Mädels kein Radiohead hören – ich war definitiv extrem nervig rund um 2000 in Bezug auf "Kid A" – oder dass Jungs kein Deftones hören. Es ist vielmehr eine Energie, die von der Musik der Deftones ausgeht; beginnend mit “Around the Fur”. Song zwei heißt einfach mal eiskalt “Lhabia” – man kann sicher erraten, worum es in dem Lied geht.
Ich untermauere meine Meinung immer gerne mit Fakten, also wollte ich schlaue Artikel googeln, die meine Meinung bestätigen. Tippt man “is deftones for” in die Google-Suchleiste, ist das erste Resultat “is deftones for girls” und das Zweite “is deftones for gay people”. Da hatte also noch wer das gleiche Gefühl wie ich. Es gibt sogar einen Urban Dictionary-Eintrag für das sogenannte “Deftones girl”: the absolute hottest type of girl. she has immaculate music taste and always has the best taste in things. She loves, or just listens to the band, called deftones.
Was daran interessant ist, ist, dass es scheinbar gar nicht vorausgesetzt ist, groß Deftones zu hören, um ein Deftones girl zu sein. Man muss einfach nur einen herausragenden Geschmack haben.
Spaß beiseite, ich habe mich wirklich auf die Suche nach Antworten gemacht. Wie der Zufall es will, hat sich im Deftones-Subreddit jemand exakt die selbe Frage gestellt: Wieso sind Deftones im Vergleich zu anderen Metal-Bands der Ära so beliebt bei Frauen? Es ist ja nicht so, als würden Mädels kein KoRn hören. Was macht Deftones aber so besonders für das weibliche Publikum?
User Like-linus85 hat eine Theorie: Schon in den 90ern nannte Moreno weibliche Sängerinnen wie Sade und Mary Timothy als Einflüsse auf seinen Gesang und sein Songwriting. Ein vermeintlich kleines Detail, doch Aussagen wie diese, die explizite Benennung und das Lob für weibliche Musikerinnen, hat man bei seinen Zeitgenossen oft vergeblich gesucht.
Sicher sind es auch die Songtexte selbst, die eine faszinierende Balance finden, indem sie sexuell aber nicht sexualisierend sind, was viele Frauen anspricht. Wenn man einen Blick in den Mainstream wirft, mangelt es nicht an Songs über Sex. Jedoch zeigt sich, auch über Genregrenzen hinaus, oft ein Muster weiblicher Erniedrigung in diesen Liedern – etwas, was die Songs von Deftones sehr explizit ausklammern. Übrigens glaube ich auch, dass das der Grund für das rege weibliche Publikum von Sleep Token ist – darüber können wir aber ein anderes Mal sprechen.
Frauen mögen Musik über einvernehmlichen Sex. Das mag banal, wenn nicht sogar selbstverständlich klingen, doch das ist es nicht. Schauen wir uns das aktuelle Pop-Pinup Sabrina Carpenter an. Ihr Brand ist sehr Frauen-fokussiert (wobei ich mir sicher bin, dass sich Männer auch an ihren Kostümen erfreuen), und bedient sich der Ästhetik weiblicher Sexualität mit der expliziten Aussage der Selbstbestimmung. Deftones sind zwar weniger emanzipatorisch unterwegs, doch man spürt einen gewissen Respekt und verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema. Und wenn sich eine space sicher anfühlt, dann kann man sich darin auch besser fallen lassen. Ich bin eine Lady – ich habe definitiv gewisse Gedanken zu “Change (In The House of Flies)”. Dafür müsst ihr aber unser Patreon abonnieren.
Beste Songs: In der Gesamtheit hören und Genießen. Wenn ihr aber auf einen Favoriten besteht: i think about you all the time, my mind is a mountain, departing the body
Wertung
Es wird nie wieder eine Band wie Deftones geben. Ihre Musik ist mit keiner anderen innerhalb oder außerhalb des Metal-Genres vergleichbar. Deftones bewerten zu wollen ist eine schier unmögliche Aufgabe, denn ich bin meinem Vokabular zum Trotz nicht fähig, Worte für die Musik zu finden. Deftones und “private music” sind ein Erlebnis für Körper und Seele und so intensiv wird die Platte auch am besten gehört. Ich kann mir nicht vorstellen, “private music” zum Joggen oder bei der Arbeit anzumachen. Das ist Musik, die am sinnvollsten mit einem Glas Rotwein und guten Kopfhörern in absoluter Dunkelheit konsumiert wird. Vielleicht auch auf Granitboden liegend während ein starker Sommerregen auf einen eindrischt. So oder so kriege ich jedes Mal Gänsehaut.
Wertung
Deftones sind und bleiben Deftones. Daran ändert sich auch mit "private music" nichts. Von den Kaliforniern zu verlangen ein zweites "White Pony" zu machen, ist wohl ein wenig überambitioniert, auch wenn Deftones hier in einigen Momenten durchaus an die Höhenflüge früherer Tage anknüpfen können. Nachdem die letzten beiden Alben (vor allem das 2020 erschienene "Ohms") für mich eine gewisse Müdigkeit innehatten, geht "private music" wieder mit ungebrochener Intensität an die Startlinie - stolpert aber leider für mich auch schon einen Tick vor dem Startschuss in Richtung Ziel (um mal in der Sportmetapher zu bleiben). Die Tracks sind teils etwas übereifrig, die Brüche sehr abrupt. Und in den besten Momenten fühle ich mich dann doch wieder an alte Klassiker wie "Passenger" zurückerinnert. Ihr merkt, Natalys grenzenlose Begeisterung kann ich nicht ganz teilen, nichtsdestotrotz ist "private music" ein durchaus gelungenes Deftones-Album, was es per se schonmal über dem Großteil der Genre-Konkurrenz einsortieren sollte.

Nataly Sesic
Unter Freund:innen weiß man: Wenn du neue Musik auf die Ohren brauchst, fragst du Nataly. Als Maximalistin im wahrsten Sinne des Wortes liebt sie „too much“: sei es Pop der 2010er, Rock der 80er oder mysteriöse Subgenres irgendwo zwischen tumblr und Totalausfall; Nataly hat dazu eine Meinung - und sicher einige Fun Facts parat. Wenn sie nicht gerade auf einem Konzert ist, macht Nataly die Hallen ihrer Universität unsicher, schreibt oder liest Bücher oder hat selber die Gitarre in der Hand.