Amorphis und „Borderland“: Mut zur Irritation
25.09.2025 | Marco Kampe

Amorphis tauchen seit mehr als 3 Jahrzehnten fortwährend auf Szene-Billings auf, ohne sich dabei allzu stark dem Rampenlicht anzubiedern. Die selbstgewählte (?) zweite bis dritte Reihe ermöglicht es den Finnen, weitgehend losgelöst von medialen Erwartungen zu agieren und auch im 35. Jahr nach Bandgründung künstlerisch querzulüften. Wer also an die Teilnehmerurkunde der Bundesjugendspiele denkt, der liegt hier grundlegend falsch. Eingebettet in ein sehenswertes Artwork widmet sich die Band den großen, teils philosophischen Fragen unserer Zeit. Dazu gehört im besonderen Maße die Entfremdung von der uns umgebenden Natur, der man sich mit Interpretationsspielraum bietenden Songtiteln annähert. An den Reglern darf der hochdotierte, für skandinavische Gitarrenmusik bekannte Produzent Jacob Hansen brillieren. Brillieren ist an dieser Stelle keine freimütig angewandte Redewendung, sondern hör- und spürbare Realität, wie die nachfolgenden Einzelbetrachtungen zeigen.
Das einleitende „The Circle“ weckt zunächst Assoziationen mit poppigen Spielarten des Metalcore. Doch weit gefehlt! Der Song geht nach seichtem Intro in feinsten Metal-Bombast mit Klargesang über. Große Gesten unterstreichen die teils schwermütige Grundausrichtung der Platte und spannen den Rahmen für eine durchweg dichte Atmosphäre. Bevor es jedoch zu gemütlich wird, ziehen Amorphis mit „Bones“ die Zügel an. Die im Vorhinein betonte, künstlerische Freiheit lässt das zu und so fährt man einen weiteren Punktsieg ein. Frisch, authentisch, abwechslungsreich. Wo andere Bands meinen, Intensität mit 50 Minuten Dauerbeschallung auf Stufe 10 zu erzeugen, stellen sich Amorphis bedeutend geschickter an. Laut und leise, schnell und langsam - Die gesammelte Band-Erfahrung zeigt sich in ihrem künstlerischen Schaffen.
Dass man bei einer ernstzunehmenden Metal-Scheibe über tolle Keyboard-Sounds sprechen muss, ist beachtlich und mehr als angebracht (vgl. „Dancing Shadow“). Auch das zuvor veröffentlichte „Light And Shadow“ nimmt Tastenklänge als fast selbstverständlichen Bestandteil mit auf und überzeugt, man muss es merkwürdigerweise so sagen, als Hit-Single. „The Strange“ bietet Melodic-Death-Metal in Reinkultur, wehrt sich demgegenüber allerdings nicht gegen die Einflussnahme melodischer Parts. Dies wirkt in etwa so, als hätten Nightwish und Dark Tranquility einen ihnen bis dato unbekannten Nachfahren, der sich zu lange versteckt hat. „The Lantern“ steht ebenjenem Eindruck derweil in nichts nach.
„Fog To Fog“ oder auch „Tempest“ warten mit düster-romantischen, balladesken Versatzstücken auf, welche die Band ohne Kitsch vorzutragen vermag und die sie stets mit einer dramaturgischen Steigerung wachsen lässt. Jeweils großes Kino. Vor diesem Hintergrund wird es fast langweilig zu erwähnen, dass auch der Titeltrack wie aus einem Guss aus den Lautsprechern scheppert. Ein epochales Stück („Despair“) beschließt eine denkwürdige, gute Dreiviertelstunde, die ihresgleichen sucht.
Warum in Zeiten von KI viele Worte zur Meinungsbildung verlieren, wenn doch schon die Einleitung mit rhetorischen Fragen gespickt war? Nun denn: Schwächen? Fehlanzeige! Weitermachen? Ja, bitte! Album Nummer 16 darf gerne in Angriff genommen werden. Lieben Gruß nach Finnland.
Wertung
Das Vorgängerwerk „Halo“ bekommt in meinem Plattenschrank wohl bald einen Spielkameraden. Dringende Hör- und Kaufempfehlung.
Marco Kampe
Der vormalige Fokus auf verzerrte E-Gitarren ist bei Marco einem übergeordneten Interesse an der Musikwelt gewichen. Die Wurzeln bleiben bestehen, die Sprossen wachsen in (fast) sämtliche Richtungen. Darüber hinaus bedient er gerne die Herdplatten oder schnürt sich die Laufschuhe.