Maruja und “Pain To Power”: Starke Wechselwirkung
20.10.2025 | Kai Weingärtner

Als ich diese Zeilen hier tippe, schreiben wir den 15.10.2025 – ziemlich genau einen Monat nach dem Release von Pain to Power. Dabei ist das Debütalbum der Band aus Manchester weder spurlos an mir vorbeigezogen, noch hat es mich komplett unvorbereitet getroffen. Schon mit den beiden EPs der Band aus Manchester hatte ich eine Menge Spaß, wenn man die Gefühle, die Maruja mit ihrer Musik auslösen, als so etwas wie Spaß bezeichnen kann. Und auch die vorausgehenden Singles von Pain to Power habe ich wie ein Schwamm aufgesogen. Aber nichts davon hat mich auf den Eindruck vorbereitet, den dieses Album bei mir hinterlassen sollte. Und so versuche ich nun nach knapp 30 Tagen und mindestens genauso vielen Durchläufen der Platte meine Gedanken zu Pain to Power zu Papier zu bringen.
Ein guter Startpunkt dafür sind wohl die bereits erwähnten Vorabsingles, speziell Look Down On Us. Allein die Entscheidung, dem Publikum einen 10-minütigen Gewaltmarsch von einem Song als ersten Eindruck eines Albums vorszusetzen, verdient Anerkennung. Und Look Down On Us klingt dann obendrein auch noch wie der Elefantenmarsch aus Dschungelbuch, wenn die Dickhäuter wütende Arbeiter:innen auf einer Demo gegen irgendeinen schäbigen Großkonzern wären. Der Song wankt und windet sich wie ein gefesseltes Tier, verfällt dann im Mittelteil plötzlich in eine fast sphärische Zurückgezogenheit, bis nur noch eine kontemplative Gitarrenmelodie hörbar ist. Aus der sich das Bollwerk langsam wieder aufbaut um die immer frenetischer werdende Predigt von Frontmann Harry Wilkinson zu untermauern. Und als selbiger die Zeile Be twice the ocean, be twice the land, Be twice the water, for your sons and daughters singt und seine Stimme dabei zu brechen droht, bescheren Maruja mir einen dieser musikalischen Momente, die nur alle paar Jahre mal daher kommen. Ihr wisst schon, diese Momente, die eine körperliche Reaktion hervorrufen. Das letzte Mal, dass mich ein einzelner Moment in einem Song so sehr mitgenommen hat, war wahrscheinlich in Black Country, New Roads Song Chaos Space Marine, wenn Isaac Wood mit den Worten And so I’m leaving this body zum ersten Chorus ausbricht.
Auch wenn Maruja also schon mit der ersten Single die Latte unglaublich hoch legen, muss sich keiner der acht Tracks hinter Look Down On Us verstecken. Ob es nun die desorientierenden Soundgewitter des Openers Bloodsport sind oder das vertonte Ohnmachtsgefühl von Break The Tension, Maruja werfen sich völlig hemmungslos in jede neue Wendung. Dabei mäandern die stark von den Jams der Band inspirierten Songs zwischen Post-Punk, Jazz-Einflüssen, Spoken Word und dem Fatalismus einer Generation hin und her, die sich gleich mehreren scheinbar unlösbaren Krisen gegenüber sieht. Diese Gefühle der Überforderung, Wut und Verzweiflung kommen immer dann besonders ungefiltert zum Vorschein, wenn Harry vom sprechenden ins singende übergeht. Hier macht sich dann der Eindruck breit, man schaue einem eigentlich zur Rationalisierung neigenden Menschen dabei zu, wie seine Coping-Strategie zusehends aufhört zu funktionieren. Manchmal hilft eben nur ein akustischer Ausbruch, um der Überforderung Herr zu werden, das wussten schon Tokio Hotel.
Mit Born to Die liefert das Quartett gleich den nächsten Neunminüter, der die Explosivität der Band nahtlos mit ihren ebenso starken ruhigen Momenten verbindet. Im Intro des Songs wechseln sich waberndes Saxophon und spoken word ab, bis der Song nach knapp sieben Minuten instrumentierter Nachdenklichkeit in ein tosendes Gewitter aus Drums und knurrenden Gitarren ausbricht, in dem sich scheinbar die gesamte zuvor angestaute Frustration entlädt.
Pain to Power ist ein Album, das von seiner Dynamik lebt. Sowohl innerhalb der einzelnen Songs als auch über die Tracklist verteilt vollziehen Maruja eine Wendung nach der nächsten, die sich durch das brilliante Zusammenspiel der Musiker aber oft gar nicht aufs erste Hören als solche zu erkennen geben. Gerade noch verliert man sich zwischen den tosenden Klangfronten von Look Down on Us, da erklingen schon die ersten Klänge des nächsten Songs Saoirse, dessen ausgedehntes Instrumentalintro einen der introspektiven Momente des Albums markiert. Lyrisch dreht sich beinahe der gesamte Song um das Mantra It’s our differences, that make us beautiful, und auch hier trifft Wilkinsons bebendes Timbre wider jeden Nerv, wenn sich seine Stimme zusammen mit Joe Carrolls Saxophon in die Höhe schraubt. Zaytoun und Reconcile zählen ebenfalls zu den eher wabernden melancholischen Songs von Pain to Power. Zaytoun ist der arabische Name für den Olivenbaum. Ein universelles Friedenssymbol, dass in diesem Fall nur eines von vielen politischen Statements ist, das Maruja über die 50 Minuten von Pain to Power setzen. Obwohl schon der Titel eine Solidarisierung mit der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen darstellt, kommt Zaytoun komplett ohne Vocals aus, fast so, als könnten Worte dem Leid der Menschen überhaupt nicht gerecht werden. Reconcile suggeriert abschließend dann doch tatsächlich sowas wie ein versöhnliches Ende, nachdem die Band über die bisherigen sieben Songs ihrem Ärger und ihrer Wut über die Verhältnisse auf unterschiedliche Weise Luft gemacht hat. Der Song nimmt die andächtige Stimmung des Vorgängers mit, ergänzt den Mix aber durch flehende Appelle Wilkinsons.
Pain to Power endet so in vertonter Verzweiflung, aus der aber bei ganz genauem Hinhören so etwas wie Hoffnung zu erwachsen scheint. Ist das diese heilende Kraft der Musik? Klingt etwas kitschig, aber ein klein wenig Pathos wird ja wohl erlaubt sein, im Angesicht so viel brachialer Emotionalität.
Wertung
Musik ist einfach krass. Da höre ich Monat für Monat neue Alben, und immer wenn auch nur das entfernteste Gefühl von “so langsam hab ich aber auch alles gehört” aufkommt, kommt sowas wie "Pain to Power" daher und pustet mich komplett an die Wand. Diese überbordende Kreativität, dieses nahtlose Zusammenspiel. Die Bandmitglieder scheinen mit dem ersten Ton zu einer Einheit zu verschmelzen. Nichts hieran wirkt verkopft, einstudiert oder zerdacht. Das ist emotionale Intuition, gegossen in Lärm.

Kai Weingärtner
Kai hat in Osnabrück Politik und Kulturwissenschaft studiert, und damit tatsächlich einen Job gefunden. Der verhindert mittlerweile leider, dass er sein ganzes Leben in irgendwelchen stickigen Konzertvenues verbringen kann, die Leidenschaft für alles, was laut ist und idealerweise auch manchmal ein bisschen in den Ohren wehtut, ist aber so groß wie nie.