Wet Leg und "moisturizer": Die schwierige Unkompliziertheit der Liebe
13.07.2025 | Frank Diedrichs

Eine wesentliche Veränderung ist die Zusammensetzung der Band. Bestand das Duo Wet Leg vormals „nur“ aus Rhian Teasdale und Hester Chambers, sind sie nun zum Quintett angewachsen: Die Tourmusiker Henry Holmes (Perkussion, Schlagzeug), Ellis Durand (Bass) und Josh Mobaraki (Gitarre, Synthesizer) sind inzwischen nicht nur auf den Video-Auskopplungen zum neuen Album zu sehen, sondern waren bei den Aufnahmesessions in das Songwriting involviert und haben ihren Platz in den Credits bekommen. Diese musische Symbiose entwickelte sich aus der intensiven Zeit des Tourens rund um das Debüt heraus und wurde im Studio weitergetragen.
Getragen wird das Album, ganz besonders die Lyrics, von den vielfältigen Formen des Verliebtseins. Nach der Bio der Band zum neuen Album ist die Vielfalt der Liebe „stressed-out, gooey-eyed, gratuitously horny, blissed out, obsessive, mysterious“. Und wenn Menschen wie Rhian Teasdale, die vor Jahren noch Liebeslieder vehement abgelehnt hatte, nun ein Album voller Lieder über dieses Gefühl schreibt, kann es nur mit einschneidenden Momenten im Leben einer Songwriterin zu tun haben.
Der Opener CPR, benannt nach der lebensrettenden Herz-Lungen-Massage, verlangt die Entscheidung, ob mensch für Liebe alles tut oder alles verschlingend in den Tod treibt. Ist Liebe somit nichts anderes als ein Notfall? Wie zwei Liebende harmonieren die verzerrten Gitarren mit den Snare-Drums und erzeugen dadurch einen disharmonischen Klang, der die Lyrics unterstreicht. Ist die Stimme Teasdales hier eher unsicher, als ob sie nicht weiterwisse, wandelt sie sich in liquidize in etwas Beschwingtes und unterstreicht mit dem poppigen Sound, dass Verliebtsein ein unfassbares Glück voller Intimität darstellt, aber auch gleichzeitig in Frage stellt, in dem es Liebe auch als zerstörerischen Vorgang begreift. Denn sich auf in einer Beziehung zu verflüssigen und aufzulösen und seine Identität aufzugeben, ist nichts anderes als eine Überspitzung der überromantisierten Selbstaufgabe in der Liebe, denn „I look you dead between the eyes“.
Einen autobiografischen Aspekt greift catch these fists auf. Teasdale war Zeugin, als die US-amerikanische Singer-Songwriterin Chappel Roan von einem Mann bedrängt wurde. Es entstand dieser Song, der Self Empowerment in seiner Wichtigkeit noch weiter stärken möchte; eindrucksvoll unterstrichen durch Zeilen wie „‘cause what I really want to know is can you catch these fists“ oder „he don’t get puss, he get the boot“. Der Song ist sehr dance-punkig und lädt dazu ein, sich dieses ganze patriarchisch-maskuline Getue wegzutanzen. Und die genervte Stimme Teasdales zeigt deutlich, was sie von solchen Menschen hält. davina mccall führt nicht nur die Big Brother-Moderatorin als Reminiszenz an, sondern greift weitere Vergleiche auf. Dabei bleibt es den Hörenden überlassen, welche Intentionen sie aus den Lyrics herauslesen. Steht Davina Mccall für eine fürsorgliche Beschützerin, die ihre(n) Liebste(n) wie ihre BB-Kandidaten begleitet, oder eher für jemanden, der (auch in der Liebe) immer performen muss? Ist Liebe ein bedingungsloses „whenever, wherever“, so wie in Shakiras Hit aus den 90ern, oder ein ständiges Überwachen und Nicht-Loslassen? Ist Liebe wie eine Python, stark und sicher, oder eher tödlich? Hier zeigen Wet Leg wieder einmal, dass ihre Texte nicht eindeutig sind, sondern dazu neigen, satirisch sich Themen zu nähern. Diese Uneindeutigkeit symbolisiert der Einsatz der Snare-Drums, die immer wieder in ein Ping-Pong-Spiel verfallen, als ob zwei Meinungen hin und her geschlagen werden.
Der Song jennifer’s body ist ein Gemeinschaftsprojekt der gesamten Band. Die Lyrics weisen auf hingebungsvolle und obsessive Liebe hin. Die Zeilen „you’re giving Jennifer’s body I’ll be Needy for you” verweisen auf den Film “Jennifer’s Body” und nutzen das Bild für eine queere Liebeserfahrung, die empowernd aber auch überwältigend ist, denn in Anlehnung an Louis Amstrong gesteht das Lyrische Ich, “[…] I just think to myself […] what a beautiful life“. In mangetout spielt die Band wieder mit Worten. Mangetout betitelt zum einen die Zuckererbse und steht in dem Song für magische Bohnen, die einen aufdringlichen Mann hinhalten sollen. Zerlegt mensch das Wort in das englische “man get out” entsteht die klare Aufforderung, was aufdringliche Männer zu tun haben: sich verpissen – “I hope you gonna get soon out”, denn wer sich mit diesen Menschen einlässt, ist “get lost forever”. Der Song ist somit eine punkige Abrechnung mit Übergriffigkeiten. In pond song wird das Thema Liebe wieder in eher positiven und eindeutigen Lyrics dargestellt, aber auch hier kommen Reminiszenzen vor. So sind die Liebenden wie Westley und Buttercup aus dem Film „Die Braut des Prinzen“, deren Liebe nichts erschüttern kann oder wie die Sterne Beteigeuze und Bellatrix aus dem Sternbild Orion, welches sie vervollständigen. Leicht überlesbar, aber für die feministische Selbstbehauptung mit Sicherheit von Bedeutung, ist die Weiblichkeit Gottes: „of your mind I finally found God, when she made you she was making art“. Stark sind in diesem an Märchen erinnernden Song die Gitarrenriffs, die der Stärke der Liebe Nachdruck verleihen.
In pokemon verliert sich die Band in DreamPop-Melodien, die den beschriebenen Weg von der „Isle of Wight to Tokyo“ traumwandlerisch tragen. Eingerahmt von der Erkenntnis „get lost, get loose“ zu sein, zu fallen und sich Hände und Knie blutig zu schürfen, steht aber auch die Hoffnung in der nächsten Liebe die Erlösung zu finden, gemeinsam zu fallen und den Schmerz zu ertragen. „Bettgeflüster“ (engl. Pillow Talk) heißt ein Film aus dem 1959 mit Doris Day und Rock Hudson. Wie im Film geht es in pillow talk um verzehrende Einsichten aus dem Leben des Protagonisten. Und wurde in den prüden 50ern nur angedeutet, benennen Wet Leg ihre Fantasien, die sie nachts in ihr Kopfkissen flüstern. Die im Text erwähnte Calamity Jane ist eine amerikanische Revolverheldin (1856-1903), Protagonistin eines Films (1953) mit Doris Day [sic!], welcher ebenso als Musical umgesetzt wurde. Gerade die nicht festlegbare Geschlechteridentität, die Calamity Jane umgibt und die non-binären Rollen im Film und Musical, machen diesen Song besonders, da auch Teasdale ihre ersten queeren Erfahrungen verarbeitet. In Beziehungen auch die dunklen Seiten zu sehen und zu akzeptieren ist ein Hauptaspekt in don’t speak. Liebe wird hier zu einer universellen Sprache erhoben, die keine Worte braucht. Dieser Track ist der einzige, bei dem Hester Chambers die Lead Vocals übernimmt.
In 11:21 geht es um die Gefühle und Sehnsüchte, wenn Menschen getrennt sind und auf die Rückkehr des anderen warten. Teasdale schraubt ihre Stimme in die Höhe, sehnsuchtsvoll, verzerrend und auf die Rückkehr wartend, nur um im nächsten Augenblick, ihre Stimme in unbekannte Tiefen herabfallen zu lassen, als ob die Hoffnung sie brutal niederreißt, weil die Gewissheit schwindet. Bereits The Cure hatten in 10:15 Saturday Night dieses sehnsüchtige Warten aufgegriffen, nur wurde dort die Hoffnung durch das nie endende „drip, drip, drip“ zerstört. Das Album schließt mit dem schon fast familiär anmutenden u and me at home. Die sehr hohe und klare Stimme der Sängerin, der einsetzende chorhafte Gesang ab dem zweiten Refrain und die klaren Gitarren feiern das Zusammensein und das so wichtige Auffangen untereinander. Der Song ist durchaus als Sinnbild für das Anwachsen des Duos Wet Leg zum Quintett zu verstehen.
Das zweite von Wet Leg ist ein vielschichtiges Werk, bei dem die Liebe in vielen Facetten im Mittelpunkt steht. Durch die persönlichen Erfahrungen der letzten Jahre und die Auseinandersetzung mit Queerness, Diversität und toxischer Männlichkeit, muss jedes Lied immer hinterfragt werden, denn Eindeutigkeit ist in den Lyrics selten zu finden. Rhian Teasdales nutzt ihre Stimme vollumfänglich: Falsett, nie gekannte Tiefen, flüsternd, säuselnd und wechselt beispielsweise zwischen ironischer Kühle und offener Emotion. Der Sound der Band profitiert von der Tour-Erfahrungen und bringt Überraschungen im Sound. Songs wie catch these fists oder CPR wirken wie Hymnen geschrieben für die Tanzfläche, die trotz der verschrobenen Gitarren immer eingängig bleiben. Tracks dürfen verträumt und melancholisch klingen wie 11:21 oder pokemon. Dennoch haben alle Tracks durch die Gitarren eine Grundhaltung, die an Post-Punk mit New Wave-Einschlag erinnern. Durch die Produktion Dan Careys wurde eine Balance zwischen authentischer Rohheit und Kontrolle gefunden. Diese Weiterentwicklung tut der Band gut und garantiert mit Sicherheit unvergessliche Live-Erlebnisse.
Wertung
Als Duo begonnen starten Wet Leg jetzt als Quintett wieder voll durch. Die drei Jahre, die zwischen dem Debüt und moisturizer liegen, hat die Band genutzt, um ein Album zu schreiben, dass vielschichtig und abwechslungsreich ist. Die Texte sind nie eindeutig, wie es die Liebe nun mal auch nicht ist, lassen Spielraum und sind dadurch mutig. Indie-Rock, Post-Punk und New Wave dominieren den Sound, der aber durch Grunge-Gitarren und Synthies eine neue Spielfreude erkennen lässt.

Frank Diedrichs
Frank lebt seit über zwanzig Jahren in der Mitte Niedersachsens und unterrichtet Kinder und Jugendliche an einer Oberschule. Nach seiner musikalischen Erstprägung durch die Toten Hosen und Abstürzenden Brieftauben erweiterte er seine Hörgewohnheiten: Folkpunk, Singer-/Songwriter, Blues, Deutschpunk, US-/UK-Punk. Dabei kommt von Johnny Cash über The Beatles und Pascow bis hin zu Marvin Gaye eine Menge Vielfalt aus den Boxen, am liebsten als Vinyl.