Genremash: CrunkCore & MySpace-Musik
10.07.2025 | Nataly Sesic

Popkultur in der Dial Up-Era
Die frühen 2000er. Es ist eine Zeit, an die man sich nostalgisch zurückerinnert: YouTube ist gerade mal ein Jahr alt, TikTok und Instagram sind noch utopische Gedankenspielereien und statt einem Handy trage ich einen MP3-Player im Hello Kitty-Design und 500 meiner liebsten Songs mit mir rum. Musikalisch ist 2006 ein bemerkenswertes Jahr: Boyband-Schwarm Justin Timberlake bringt „Sexy Back“, Nelly Furtado legt mit „Maneater“ einen Hall & Oates-Klassiker neu auf und die Red Hot Chili Peppers rocken mit „Dani California“ die Charts.
Für mich ist 2006 das Jahr von My Chemical Romance, Breaking Benjamin und Three Days Grace und natürlich Linkin Park, immer Linkin Park. Dass meine Lieblinge 2006 bei den Grammy Awards zu sehen sind, und mit Jay-Z den Remix ihres Hits „Numb“ spielen, ist für mich als alternative Göre aus einem kleinen schwäbischen Dorf die Erfüllung aller Träume. Vor dem Fernseher wird gehörig geheadbangt – unabhängig davon, ob es musikalisch Sinn macht. Es geht einfach darum, dabei zu sein.
Seit 2004 gibt es bei uns Zuhause einen Computer, den ich natürlich monopolisiere. Bis alles hochfährt, habe ich mir zwei Butterbrote geschmiert und mich mindestens einmal mit meiner Mutter gestritten. Das frühe Internet war ein wahres Wunderland der alternativen Szene. In Foren versammeln sich Metal-Fans, in Chats kann man sich über seine Lieblingslieder austauschen. Ich (9) führe tiefgründige Gespräche mit Tobias69 (wahrscheinlich Ü40) über die klappernden Drums auf „St. Anger“. Und nirgends sammelt sich die Musikszene so stark wie auf MySpace.
Das Phänomen MySpace-Musik
MySpace geht als eine der frühsten Social-Media-Plattformen bereits 2003 ins Rennen.
Zwischen 2005 und 2009 war MySpace die größte soziale Plattform weltweit, sicher auch wegen der lebendigen Musikszene, die sich auf der Seite getummelt hat. Von Anbeginn seiner Zeit hatte MySpace den Finger auf dem Puls der Popkultur – allem voran, wenn es um das Internet und seine Subkulturen ging. Schon zum Launch von YouTube 2005 war es möglich, Videos direkt auf der eigenen MySpace-Seite einzubinden. Die Plattform wurde so schnell zu einem beliebten Ort für Musiker:innen, um ihre Lieder hochzuladen und mit Fans in Verbindung zu treten. Bekannte Künstler:innen, die auf MySpace hochgeladen haben, waren unter anderem: My Chemical Romance, Taylor Swift und Lady Gaga. Das blieb von der Chefetage nicht unbemerkt: 2005 eröffnet MySpace ein eigenes Plattenlabel unter dem Namen MySpace Records. 2007 gelingt MySpace sogar eine Partnerschaft mit Sony BMG, die es der Seite erlaubt, deren Musik direkt auf ihrer Plattform zu hosten. So wird MySpace offiziell zur online “place to be” für Musikerinnen und Musikliebhaber.
Musik-Szene und Scene-Musik
Auf Reddit (r/musicsuggestions) fragt User ButtonAsherXY, welche Lieder besonders an MySpace erinnern. Schnell fällt auf, dass sich Antworten wiederholen: My Chemical Romance, Fall Out Boy, Taking Back Sunday, Hollywood Undead und BrokeNCYDE werden immer wieder genannt.
Wie ein anderer User ganz richtig gemerkt: Zu seinen Hoch-Zeiten war MySpace ein Spielplatz für die “emo/scene aesthetic”. Jeder, der rund um die 2000er im Internet war, weiß genau, was das bedeutet: hochtoupierte, oft zweifarbige Haare, Krönchen, Tutus, Zebrastreifen und knallige Neonfarben.
2023 veröffentlicht Musikjournalist Michael Tedder das Buch "Top Eight: How MySpace Changed Music“ und erklärt darin, wie die Synergien zwischen der Emo-Szene und MySpace entstanden sind. Musik bildete neben der visuellen Ästhetik den harten Kern der Szene. Die Nische verband sich über einen gemeinsamen musikalischen Kanon, ganz oben mit dabei ebendie Künstler:innen, die auf MySpace besonders gefeiert wurden. Was einst eine kleine, und oft belächelte, Subkultur war, wird ab 2003 mithilfe der Plattform Mainstream – zumindest online.
Die kulturelle Relevanz der Subkultur zeigt sich 2008: Die stets journalistisch einwandfreie Zeitung Daily Mail erklärt die Emo-Bewegung zur neuen satanischen Panik und behauptet, Szene und Musik würden die armen Kinder schnurstracks auf den Weg zu Drogen, Sex und Selbstmord schicken. Zwei Wochen später protestiert eine Gruppe von um die 300 My Chemical Romance-Fans vor den Redaktionsbüros der Zeitung. Ein bisschen lustig stelle ich es mir schon vor, die Traube dunkel geschminkter Teenies in Zebrastreifen und neonfarbenen Stulpen. Dass der verantwortliche Redakteur ängstlich unter seinem Schreibtisch kauern musste, wage ich zu bezweifeln.
Die Popularität von Emo führt schließlich dazu, dass die Subkulturen weitere Subkulturen bilden. Und aus dieser Nische entsteht dann ein ganz besonderes Genre: Crunkcore.
Crunkcore, auch als Crunk Punk, Crunk Rock, Screamo-Crunk oder Scrunk (eine denkbar unglückliche Wortschöpfung) bekannt, mischt Elemente von Hip Hop mit den für Metalcore typischen Screams und stimmlichen Affektionen. Der Boston Phoenix beschreibt das Genre als „a combination of minimalist western hip-hop, Auto-Tune croons, techno breakdowns, barked vocals, and party-till-you-puke poetics“; quasi ein Osterkorb an Genreklischees, der in kürzester Zeit zu Zahnschmerzen führt.
Boston Phoenix-Redakteurin und Musikerin Jessica Hopper sieht die Anfänge des Crunkcore bereits 2005 bei Panic! At the Disco. Die Band hat bekanntlich stets Emo mit elektronischen Elementen gemischt; ein typisches Stilmittel des Genres.
Warped Tour Co-Gründer Kevin Kyman nennt dagegen die Band 30H!3 als crunke Pioniere. Zwar lehnten die Jungs eher in Richtung Hip-Hop und verzichteten auf Screams, doch sie waren laut Kyman der erste Act, der die Stilmittel des späteren Crunkcore effektiv zu mixen verstand.
Spätestens 2008, mit der Veröffentlichung von „Punk Goes Crunk“ ist der Genremash zwischen Hip-Hop und Metalcore beschlossene Sache. In 15 gloriosen Tracks covern bekannte Künstler:innen aus der Metalcore- und Emo-Szene ebenso bekannten Hip Hop. Mein persönlicher Favorit: “Still Fly” von The Devil Wears Prada.
Die Verbreitung von Autotune hatte sicher auch einen starken Einfluss auf die Entwicklung des Genres. De facto ist Autotune einfach eine algorithmische Korrektur der Singstimme, die seit seiner Erfindung 1996 von Produzent:innen genutzt wird. Der erste bekannte Fall von Autotune in der Popmusik ist Chers Hit “Believe” von 1998. Es ist eine gängige Praxis, die eventuelle Schwächen des Sänger:innen ausmerzen soll oder stilistisch verwendet wird, um ein Level an quasi-robotischer „Glätte“ in der Stimme zu erreichen. Subtil angewendet ist es fast nicht bemerkbar, doch Mitte 2000 war das Ziel eben doch, dass man das Roboterstimmchen hört – und es effektiv verwendet, nicht um Stimmen zu glätten, sondern als ganz eigenes Stilmittel. In der Popmusik war niemand bekannter für seine Nutzung der Computertechnik als der Rapper T-Pain. Er trat eine Welle los, die den Trend vom Hip-Hop alsbald in viele weitere Genres schwemmte.
Skrunk-Pioniere: BrokeNCYDE
Niemand repräsentiert das Genre Crunkcore so perfekt wie BrokeNCYDE. Das sind Steven David „Se7en“ Gallegos und Michael „Mik L“ Shea, aus Albuquerque, New Mexico. Der Name setzt sich aus den Begriffen „broke(n)“ und „inside“ zusammen und ist schön peppig geschrieben: Auch hier sieht man schon die Verschmelzung von Emo und Hip-Hop.
In der damals vorherrschenden Warped Tour-Szene waren die Jungs von BrokeNCYDE seit jeher Außenseiter; beginnend bei ihrem Selbstverständnis. Denn, obwohl ihre Musik sowohl stilistisch als auch thematisch viel von der Metalcore-Szene geliehen hat, sahen sich Shea und Gallegos immer mehr als Rapper: “We were always fighting to get into the rap world, but we were just pushed into the rock world because of how we were making a hybrid of a bunch of different sounds and genres,” so Shea.
Der erhoffte Durchbruch in der Hip-Hop-Szene bleibt aus: außer Features von E-49, Paul Wall und Daddy X konnten sie nur wenig reißen. Das bedeutet jedoch nicht, dass BrokeNCYDE überhaupt keinen Erfolg hatten: Ihr Debüt „I’m Not a Fan, But the Kids Like it!“ schafft es 2009 auf Platz 86 der Billboard 200 – keine schlechte Bilanz, insbesondere wenn man betrachtet, dass Crunkcore ein absolutes Nischengenre ist. In derselben Woche bekleideten übrigens die Jonas Brothers Platz 1.
Erfolg bedeutet aber nicht unbedingt Beliebtheit. Über Kunst lässt sich bekanntlich streiten – und nirgends tut man das so freudig wie im Internet – doch kaum eine Band erfährt zu dieser Zeit mehr Hass und Häme als BrokeNCYDE. John McDonnell von The Guardian bezeichnet BrokeNCYDE als “the worst thing to happen to music since Katie Melua's Nine Million Bicycles in Beijing” (was hat ihm Katie Melua getan?).
Ebenso zerreissen sich NME gnadenlos das Maul über das Album (unter anderem bezeichnen sie es als Strafe, die sie nicht mal Prinz Harry zu Nazi-Kostüm-Zeiten antun würden), enden den Paragraphen aber mit “it’s pretty catchy”.
Diese Catchiness ist es vielleicht auch, die dem Duo zum Verhängnis geworden ist. Nachdem “Freaxxx” – sicher das Lied, das man am besten von den Jungs kennt, wenn es nicht sogar symbolisch für das gesamte Crunkcore-Genre steht – online die Runden gemacht hat, konnten sie niemanden finden, der mit ihnen auf Tour geht. Ihr Ruf war dank der instant memefication ruiniert. Bei ihren Headliner-Touren kommt es regelmäßig zu Auseinandersetzungen mit vermeintlichen “Fans”, die scheinbar nur auf das Konzert gekommen sind, um sich darüber lustig zu machen. Shea und Gallegos leiden unter den konstanten Anfeindungen; online machen zahlreiche Gerüchte die Runde, sie seien entweder tot oder in illegale Aktivitäten verwickelt. “If you liked BrokeNCYDE, you were an outcast, pretty much,” gibt Shea frustriert zu.
Facebooks rasant steigende Popularität und interne Shakeups führen dazu, dass MySpace seine Poleposition online verliert. 2009 versucht MySpace mit einem Redesign nochmal seine User zu mobilisieren; doch erfolglos.
Im März 2019 verliert MySpace aufgrund eines Serverproblems alle Daten vor dem Jahr 2016. Somit wird eine Ära des Internets ausgelöscht. Zum Glück war niemand mehr auf MySpace aktiv um die traurige Nachricht mitzubekommen.
Pioniere UND Witzfiguren
Man mag von ihrer Musik denken, was man will, doch in vielerlei Hinsicht waren BrokeNCYDE Pioniere. Man kann behaupten, dass ein gravierender Teil der Soundcloud-Szene sich etwas von BrokeNCYDE, Crunkcore und der Myspace-Musikära abgeschaut hat.
In ihrem Artikel über BrokeNCYDE erklärt Vice, wenn man ihnen schon nicht den Respekt als Genre-Pioniere erweist, so muss man dennoch sagen: BrokeNCYDE war sicher eine der ersten Bands, die den Balanceakt zwischen Meme und Musik im aufstrebenden Internet leisten mussten und befinden sich damit in illustrer Gesellschaft mit Smash Mouth, Rick Astley und Psy.
BrokeNCYDE machen nach wie vor Musik, wobei sie ihr Genre weg von Crunkcore und Metal, und in Richtung Trap und Hip-Hop bewegt haben, wie es einst schon der Plan war.
2018 veröffentlichen sie ihr bisher letztes Album, “0 to BrokeNCYDE” via X-Ray Records.
Auf Reddit versucht User lorelaisparrow erst vor einem Jahr die Faszination Crunkcore zu erklären: Es ist der Kontrast zwischen zuckersüßen Highs und „suicidal lows“, welche die Ableger des Genres gegenüber Pop bestärken. “It was party music that was ‘edgier’ than mainstream pop so you could have your dumb dance songs but still feel like an outsider and cool kid,” so der User. Die Ästhetik spielte eine deutlich größere Rolle als die Kunst.
Im selben Thread sagt ein anderer User, reichlich mutig, wie ich finde: “If BrokeNCYDE knew how to actually sing/scream, they'd be Electric Callboy instead.”
Food for thought.

Nataly Sesic
Unter Freund:innen weiß man: Wenn du neue Musik auf die Ohren brauchst, fragst du Nataly. Als Maximalistin im wahrsten Sinne des Wortes liebt sie „too much“: sei es Pop der 2010er, Rock der 80er oder mysteriöse Subgenres irgendwo zwischen tumblr und Totalausfall; Nataly hat dazu eine Meinung - und sicher einige Fun Facts parat. Wenn sie nicht gerade auf einem Konzert ist, macht Nataly die Hallen ihrer Universität unsicher, schreibt oder liest Bücher oder hat selber die Gitarre in der Hand.